Tag 6
Es ist schon gute alte Tradition, dass am Morgen nach dem Bordfest der Tag eine Stunde später beginnt. So haben selbst die hartgesottensten Party-Matrosen Zeit, einigermaßen in die Gänge zu kommen, und es sitzen dann auch alle pünktlich zum Frühstück in der Messe.
Heute bleiben wir noch auf dem Wattenmeer, unser nächster Hafen wird Harlingen sein. Das Wetter ist vom Feinsten, man ahnt schon den Sommer. Der Wind meint es leider auch heute nicht wirklich gut mit uns, so dass wir relativ viel unter Motor fahren. Aber wir sind recht zeitig in Harlingen; schon gegen 15:00 Uhr gibt es den Anlegerkakao. Und das ist auch gut so. Harlingen ist für mich Segelschiff-Fan das nächste große Highlight. Das beginnt schon beim Anlegen: Wir machen direkt vor der Bark Artemis und der Barkentine Atlantis fest, die da "im Päckchen" liegen.
Die Artemis wurde 1926 in Norwegen für den Walfang gebaut. Ca. 25 Jahre später wurde sie zum Frachtsegler umgebaut, ehe sie dann 2001 von einer holländischen Investorengruppe gekauft wurde. Nach umfangreichen Rekonstruktions- und Umbaumaßnahmen, speziell im Innenleben des Schiffes, bietet sie nun ähnlich unserer Hendrika Tages- und Wochentörns für segelwillige Menschen an.
Die Atlantis hat eine ganz andere Geschichte. Sie wurde 1905 in Hamburg als Feuerschiff ELBE 2 und unter dem Namen Bürgermeister Bartels vom Stapel gelassen. (Die Namensähnlichkeit zur Hendrika Bartelds ist zufällig.) Nach einer Kollision mit dem dänischen Frachter Banana wurde sie wegen der daraus resultierenden erheblichen Schäden außer Dienst gestellt, diente dann aber noch als Übungsschiff zur Brandbekämpfung. Dann geschah etwas wirklich Schönes. Klugen Köpfen fiel auf, dass ihre Linien denen eines Segelschiffes gleichen. Und zu diesen klugen Köpfen gehörte passenderweise auch genügend Geld, um eine lohnende Investition zu tätigen: In einer deutschen Reederei wurde sie zum Luxussegler umgebaut. Nach nochmaligem Eignerwechsel fährt sie seit 2005 unter holländischer Flagge und hat ihren Heimathafen hier in Harlingen.
Doch die kleine Sensation wartet dann nur wenige Meter entfernt. Von außen auf den ersten Blick unscheinbar, gibt es da ein kleines Gebäude mit einer größeren, sich daran anschließenden halboffenen Halle. Aber um so bemerkenswerter ist, was sich hinter dem allen verbirgt: In dieser kleinen Werft entsteht eine seetüchtige Replik des Expeditionsschiffes, mit dem Willem Barents im Jahr 1596 seine letzte Reise antrat. Besucher sind hier ausdrücklich willkommen und werden auch entsprechend herzlich begrüßt. Eine nette Dame ist sofort bereit, eine Führung zu geben. Zuerst wird sich im Werftgebäude, welches eher ein kleines Museum ist, umgeschaut. Ein Modell des Schifes, welches da draußen am Entstehen ist, vermittelt schon mal viel Vorfreude. Etliche Exponate zum Begucken und auch zum Anfassen sowie zahlreiche Fotos dokumentieren den bisherigen Bau des Schiffes. So bin ich also weiterhin auf den Spuren von Willem Barents unterwegs.
Ein interessantes Detail, welches man auch auf den Bildern gut sieht: Wie wurden die Planken früher am Spantengerüst befestigt? Mit Holzdübeln, und genauso machen es die Schiffbauer hier auch. Und gleich geht es hinein in den Rumpf des Schiffes, da sieht man dann, dass das auch wirklich so gemacht wird wie früher.
Ach ja, noch ein kleines Gimmick: Das Koppelbrett, welches im Museum ’t Behouden Huy auf Terschelling schon zu sehen war, begegnet uns hier wieder, und hier in Harlingen darf man es auch mal probeweise benutzen.
Dann endlich geht es raus in die Werfthalle. Auf den ersten Blick wirkt das Schiff winzig. Ich mache mir dann aber bewusst, dass die Schiffe dieser Zeit selten viel größer waren. Knapp 100 Jahre, nachdem Kolumbus mit seiner ca. 24 Meter langen Santa Maria sowie der Pinta (19 m) und der Nina (16 m) Amerika entdeckte, wird es immer noch ein paar hundert Jahre dauern, ehe der Mensch mit Segelschiffen, die an die 100 Meter lang sind, über die Weltmeere schippert. Und da rede ich noch gar nicht von dem, was nach dem Zeitalter der Segelschiffe kam...
Aber egal, für mich ist der Rumpf ein irre schöner Anblick. Macht man sich dann noch bewusst, dass hier in traditioneller Bauweise Schiffbau betrieben wird, nötigt einem das zwangsläufig höchsten Respekt ab, auch wenn da die eine oder andere Handkreissäge zum Einsatz kommt. Aber das Spantengerüst, die Beplankung, die Barghölzer - alles so, wie man früher Schiffe gebaut hat.
Und es wird immer besser: Der halbe Heckspiegel fehlt noch, und genau da können wir in das Innere steigen. Ich widerstehe dem Drang, jede Planke, jedes Knie, jeden Dübel zu fotografieren und nehme mir auch die Zeit, mich einfach nur glücklich umzuschauen. Dennoch sind es auch reichlich Bilder geworden; schließlich möchte ich ja auch allen, die hier erwartungsfroh auf meine Homepage klicken, etwas fürs Auge bieten...
Eine nette Episode am Rande möchte ich unbedingt berichten. Ich habe ein Déjà-vu - gestern auf Terschelling, heute in Harlingen: Als ich die freundliche Frau, die erfreulicherweise auch recht gut Deutsch spricht, frage wegen Fotografieren und diese Bilder dann hier und anderswo zeigen, meint sie, dass das doch beste Werbung sei, also nur zu. Dafür an der Stelle nochmal vielen Dank!
Obwohl der Besuch in der kleinen, aber feinen Werft recht lange gedauert hat, bleibt bis zum Abendessen noch Zeit, nun auch noch das Städtchen zu erkunden. Von einem zwei Jahre zurückliegenden Besuch - damals auf dem Landweg - weiß ich, dass sich das auf jeden Fall lohnt.
Harlingen ist schon recht betagt. Bis in das Jahr 777 reichen die Ursprünge der Gründung dieses Ortes, der dann 1234 das Stadtrecht erhielt. Lange Zeit war Harlingen vor allem ein wichtiger Handelsplatz; es gab und gibt gleich mehrere Häfen. Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die friesische Kriegsflotte in den Zuiderhafen verlegt. Bis zum heutigen Tag werden in den Häfen Harlingens viele Waren umgeschlagen, so u.a. Holz, Kies und auch Vieh. Einige kleine Werften gibt es, welche Yachten bauen - und eben diese eine, die das Schiff von Barents nachbaut.
Besucht man den Ort von See aus, verwundert es erst einmal, wenn man, den Hafen im Rücken, über den Dächern jede Menge Masten und Rahen sieht - im Wissen um die Tatsache, dass Harlingen keine Insel ist, macht das schon sehr neugierig auf die Auflösung. Nun, in den sehr breiten Grachten, die direkte Verbindung zum Meer haben, säumen jede Menge Plattbodenschiffe die Ufer beider Seiten. Aber speziell ein interessantes, weil sich so deutlich von den vielen Plattbodenseglern abhebendes Schiff macht mich neugierig. Es ist der Topsegelschoner Koh-i-noor. Dieses 1909 als Küstensegler (und Plattbodenschiff) vom Stapel gelassene Schiff wurde in den 90er Jahren umgebaut, bekam einen ordentlichen Kiel und ist nunmehr als Luxussegler vorwiegend auf dem IJsselmer und dem Wattenmeer anzutreffen. Harlingen ist sein Heimathafen.
Und dann, nach dem Abendessen, gab es die tollste Fotosession des diesjährigen Törns. Der Sonnenuntergang naht, und das Fotolicht ist ideal. Ich gehe mit Fotoapparat und Stativ von Bord. Der Blick nach links zeigt die beiden stolzen Dreimaster Artemis und Atlantis; wende ich mich nach rechts, sehe ich ein Stück weiter jede Menge Plattbodenschiffe liegen, Zwei- und Dreimaster, teilweise im Dreierpäckchen nebeneinander liegend.
Die Sonne nähert sich jetzt immer mehr dem Horizont - und schöner kann ein Sonnenuntergang über dem Wattenmeer nicht sein...
Tag 7
Am nächsten Morgen geht es nach dem Frühstück unter Motor zur Brücke und Schleuse, zurück ins IJsselmeer. Wir haben Glück und müssen nicht warten, die Brücke öffnet sich bei unserem Eintreffen, und auch die dahinter liegenden Schleusentore stehen bereits für uns offen. Kaum haben wir diese verlassen, werden Segel gesetzt. Ein wunderschöner Segeltag beginnt, reichlich 6 Stunden lassen wir uns nur durch den Wind voranbringen, fahren mehrere Wenden und genießen ansonsten einmal mehr diese wunderbare Art des entschleunigten Reisens.
Mein größter und ganz persönlicher Glücksmoment findet dann exakt um 16:08 Uhr statt. Wie jedes Jahr entere ich mal wieder auf. Aber im Gegensatz zu den Vorjahren bin ich in diesem Jahr fest gewillt, endlich auch auf die Saling zu kommen. Bisher hatte ich das Gefühl, mir das nicht zuzutrauen, dafür nicht gelenkig oder nicht kräftig genug zu sein. Wie auch immer - diesmal weiß ich bereits auf der untersten Webleine der Wanten, dass ich es schaffen werde. Und ich schaffe es, und das auch relativ entspannt. Als ich dann auf der Saling stehe, ist das für mich ein überwältigendes Glücksgefühl. Gut gesichert reiße ich beide Arme hoch und jubele laut in den Wind.
Es ist wundervoll, dort oben zu stehen bzw. zu sitzen. Und heute hört man es wirklich, was in vielen der maritim-historischen Romane, die ich schon gelesen habe, immer wieder zu lesen ist: Der Wind singt im Rigg. Das klingt vielleicht etwas verkitscht, aber es ist echt so; die Vibration der Wanten, Stage und des sonstigen straff gespannten Tauwerkes erzeugt eine wundervolle Melodie.
Und eins weiß ich mit Gewissheit: Ab sofort werde ich bei jeder Fahrt auf der Saling sein.
Wettertechnisch wird der Tag dann immer schöner. Die leichte Jacke, die ich noch beim Aufentern anhatte, wird abgelegt und der Griff zur Sonnencreme ist das Gebot der Stunde. Später stehe ich dann wieder mal am Ruder, und diesmal auch mit Wind.
Das heutige Ziel ist Enkhuizen, wir erreichen den dortigen Hafen gegen 20:00 Uhr. Unser Smutje tischt zum Abendessen Italienisches auf - seine Spaghetti Bolognese sind wie jedes Jahr wieder ein kulinarischer Höhepunkt. Passend dazu lasse ich den Tag mit einem Glas Pinot Grigio ausklingen und träume nachts von der fantastischen Aussicht von der Marssaling aus...