Tag 3
Stavoren ist ein um das Jahr 900 entstandener Ort und genießt immerhin schon seit der Mitte des 11. Jahrhunderts Stadtrecht. 1385 wurde Stavoren sogar Hansestadt. Von diesen glorreichen Zeiten sieht man heute nicht mehr viel. Heute ist Stavoren eine 800-Seelen-Gemeinde, die sich hauptsächlich mit Tourismus und dabei speziell dem Wassersport behauptet, wovon auch ein großer Yachthafen, der "Marina Stavoren Buitenhaven" kündet.
Am Hafen steht das Denkmal der "Wyfke van Starum". Es handelt sich hierbei um eine mittelalterliche Figur einer bekannten Sage in Holland. Ähnlich wie in der deutschen Sage "Vom Fischer und seiner Frau" soll auch sie unzufrieden mit dem, was sie hatte, gewesen sein - nur um am Ende mit leeren Händen dazustehen...
Da nach dem Frühstück noch ein wenig Zeit bleibt, wird trotz des nieseligen Wetters noch der hübsche kleine Ort erkundet und natürlich auch die Wyfke aufs Foto gebannt. Nun, der Ort wirkte sehr menschenleer, aber in dem auf dem zweiten Bild zu sehenden Hotel bekam ich dennoch einen leckeren Kaffee. Und den sprichwörtlichen Sturm im Wasserglas definiert man hier völlig anders, wie dieses Schaufensterbild zeigt.
Und dann noch ein paar Impressionen von diesem trübgrauen Morgen im Hafen von Stavoren.
Erfreulicherweise klart kurz darauf der Himmel auf, und ich amüsiere mich über ein Schild an einem der dort liegenden Plattbodenschiffe. Ja, so kann es ruhig bald werden, denke ich mir. Ich zeige mal an, dass es nun genug mit Sightseeing ist und wir wieder an Bord gehen. Dort ruft Raggi, unser Skipper, uns alle an Deck und zeigt uns auf der Karte, was wir heute vorhaben. Unser Ziel heißt Makkum. Und dazu gibt es dann wieder das, was ich nach wie vor als einen der schönsten Momente bei diesen Törns empfinde: Wir legen unter Segeln ab! Wir setzen das Marssegel, die Fock und den Innenklüver, später dann noch (ohne Fotos) die Brefock, dieses von allen entweder geliebte oder verhasste Riesensegel. Ich mag das Teil!
Wir segeln gemächlich über das IJsselmeer, setzen auch noch den Außenklüver, und ich freue mich schon darauf, später wieder mit meinem Segelfreund Jens die Vorsegel einzubinden. Aber jetzt heißt es erst einmal, einfach nur diese ruhige, entspannte Fahrt zu genießen. Das ist Entschleunigung pur, man lässt die Seele baumeln, lümmelt im Klüverdeck oder irgendwo an Deck, vergisst Zeit und Raum. Aber nicht das Essen - Klaus, unser Smutje, hat wieder ein leckeres Mittagessen zubereitet. Nach dem der Hunger gestillt ist, gehe ich nach achtern, ich habe mal Lust, am Steuer zu stehen. Ja, das klappt dann auch - allerdings bewache ich in den nächsten zwei Stunden lediglich das Ruder, damit es niemand klaut, denn der Wind schläft nahezu vollständig ein. Es ist keine Fahrt mehr im Schiff, so dass es auf meine Ruderbewegungen nicht mehr reagiert. Das ist für mich wieder eine neue Erfahrung, und ich kann jetzt ein wenig mehr nachvollziehen, wie sich früher die Seeleute gefühlt haben müssen, wenn sie bekalmt irgendwo im Ozean lagen - und das oft mehrere Wochen lang.
Aber wenn man das Foto völlig unwissend über die tatsächliche Situation betrachtet, sieht es schon nach was aus...
Schließlich werden dann doch die Segel eingeholt und der Motor geht an, denn wirklich Wind kommt nicht mehr auf. Und so tuckern wir zu unserem Ziel. Das Wetter ist, bis auf den fehlenden Wind, immer besser geworden, der Himmel klart immer mehr auf, und die Anfahrt zum Hafen von Makkum bietet ein idyllisches Bild. Zwei Plattbodenschiffe liegen am Ufer vertäut, ihre Silhouetten spiegeln sich im fast unbewegten Wasser, und im Hintergrund grüßen kleine schmucke Häuser herüber.
Makkum entwickelte sich im Mittelalter aus einem verschlafenen Fischerdorf zum "Tor zur Zuidersee", war ein wichtiges Handelszentrum im sog. Goldenen Zeitalter im 17. und 18. Jahrhundert. Heute ist die 3000-Seelengemeinde bei Windsurfern sehr beliebt und hat mehrere Segelboothäfen. Die alten Backsteinhäuser sind ebenso zu bewundern wie eine schmucke Gracht im kleinen Zentrum des Ortes. Bemerkenswert ist auch das ehemalige Postgebäude, heute ein Lokal.
Heute Abend gehen die meisten von uns ein wenig zeitiger in die Kojen. Der Grund ist die Tide - unser morgiges Ziel Terschelling im Wattenmeer erreichen wir nur, wenn wir früh beizeiten die Flut erwischen, ansonsten würde der Tiefgang der Hendrika Bartelds uns ganz schnell auf Grund laufen lassen. Daher soll morgen alles eine Stunde früher beginnen.
Tag 4
Eine Stunde früher aufstehen - und ausgerechnet das Team, in dem ich bin, hat Frühstücksdienst. Und das mir als Spätmensch. Aber wie jedes Jahr macht mir das zeitige Aufstehen an Bord gar nichts aus. Immerhin - die Tatsache, dass es heute eine Stunde früher los geht, beschert einem Mitsegler ein besonderes "Vergnügen". Da er offenbar verschlafen hat und nicht pünktlich mit allen anderen am Frühstückstisch sitzt, bekommt er einen ganz besonders liebevollen Weckdienst: Nimmt man aus der Kombüse den größten Kochtopf und den größten Kochlöffel und haut diese dicht neben dem Ohr des Langschläfers in wildem Stakkato aneinander, kann man davon ausgehen, dass keine drei Minuten später das Frühstück beginnen kann, da nun wirklich alle am Tisch sitzen.
Als wir dann das Schiff seeklar machen, zeigt sich der Himmel von seiner blauesten Seite. T-Shirt-Wetter ist es noch nicht ganz, aber es geht bereits in die richtige Richtung. Bald schon legen wir ab, fahren unter Motor bis zur Schleuse und zur Brücke im großen Abschlussdeich, der das IJsselmeer vom Wattenmeer trennt, und schon sind wir draußen. Und jetzt beginnt ein herrlich entspanntes Segeln! Der Motor schweigt, und der Wind sorgt für ausreichend Fahrt im Schiff.
Ich habe schon bei meinem ersten Besuch im Klüvernetz gesehen, dass da ein paar hässliche Löcher drin sind. Nicht wirklich gefährlich, aber doch unangenehm, zumal sie an Stellen sind, an denen man steht, wenn man beim Einbinden der Vorsegel mit dem Innenklüver kämpft. Blöd, wenn man da mit dem Fuß plötzlich durchrutscht. Daher frage ich unsere Steuerfrau Svinda, ob ich das reparieren darf. Sie gibt mir eine Rolle Flaggleine und ein lötkolbenartiges Gerät, dessen Name mir entfallen ist - zum sauberen Durchtrennen der Kunststoffleine, mit der ich reparieren werde - und schärft mir ein, mir jemanden zu suchen, der auf dem Vordeck steht und "auf mich aufpasst". Klar, ins Klüvernetz soll man ja auch nie allein gehen. Diese Arbeit finde ich total spannend, sie macht Spaß, ich mache es gern, und am Ende sind alle Löcher gestopft. Ich gebe zu, es sieht nicht perfekt aus, aber ich vergleiche mit den anderen bereits geflickten Stellen, bei denen ich weiß, dass das die Vorjahresarbeit eines ausgebildeten Matrosen war und stelle fest: Der Unterschied ist nicht allzu groß. Und das Wichtigste: Es hält und ich fühle mich ab sofort viel sicherer, wenn ich wieder mal den Innenklüver einbinde. Ein paar Stellen an der Randbefestigung des Netzes sind auch reparaturbedürftig - da werde ich mich dann an einem anderen Tag drum kümmern.
Übrigens: Die Kapuze habe ich nicht auf, weil es so klirrekalt ist, sondern weil ich Sorge habe, dass mir der Wind mein HMS-Victory-Basecap vom Kopf weht. Diese vor neun Jahren in Portsmouth gekaufte Kopfbedeckung ist mir schon heilig, und was passt besser zu einem Segeltörn?
Heute gibt es erfreulicherweise wieder einige Segelschiffe zu sehen. Als erstes fährt mal ein schmuckes Segelboot mit uns gemeinsam durch Schleuse und Brücke ins Wattenmeer. Und nicht irgendeins, nein, eins unter britischer Flagge. Da grüße ich doch gern mit meiner Victory-Mütze artig rüber.
Kurz darauf endlich mal ein Plattbodenschiff unter Segeln. Es ist die Ambulant, ein Schiff, welches noch älter ist als unsere hundertjährige Hendrika, denn sie wurde bereits 1904 gebaut. Dann begegnen wir der schmucken Brigantine Jantje. Sie wurde ähnlich wie unsere Hendrika Bartelds ursprünglich als Motorschiff für den Fischfang gebaut und dann 1977 zum Segelschiff umgerüstet.
Die Krönung ist dann die stolze Christian Radich. Dieses als Vollschiff getakelte Dreimaster fährt unter norwegischer Flagge. Gebaut 1937, dient sie seitdem als Schulschiff. Leider fährt sie heute nicht unter Segeln. Zur Entschuldigung speziell des Norwegers muss man aber folgendes sagen: Das Seegebiet rund um Terschelling galt viele Jahrhunderte lang als eines der gefährlichsten der Weltmeere. Sandbänke, die sich durch die Gezeiten einer nachhaltigen Vermessung entzogen, viele Untiefen, enge Fahrrinnen... Zwar sind die Fahrrinnen heutzutage sehr gut gekennzeichnet, und moderne Navigationshilfen bieten ein deutlich höheres Maß an Sicherheit - dennoch: Die Christian Radich hat einen Tiefgang von 4,9 m, da wäre ich als Skipper in diesen Gewässern auch vorsichtig. Egal, dennoch ist es mir eine große Freude, diesem großen stolzen Dreimaster auf dem Meer begegnen zu können. Und als das Plattbodenschiff Iselmar, 1902 als Frachtsegler gebaut, kamerawirksam auf divergierendem Kurs mit der Christian Radich vorbeifuhr, klicken einige Kameras sehr heftig.
Das letzte Stück des heutigen Törns fahren wir wieder mit Motorkraft - die verwinkelte Fahrrinne rein nach Terschelling ist schmal, sehr schmal. Als wir auf Terschelling festmachen, steht bereits fest: Wir werden hier einen Tag lang liegen; die für morgen zu erwartenden Winde machen es uns unmöglich, unser nächstes Ziel zu vernünftigen Bedingungen, also wenigstens etwas unter Segeln, zu erreichen. Nun, diese eine der fünf bewohnten fünf westfriesischen Inseln lohnt es durchaus, sich dort mal einen Tag lang umzuschauen. Davon dann später mehr.
Der Abend an Bord bietet wieder viel Unterhaltung. Jens packt erneut die Ukulele aus, und in seinem seit vorigen Jahr erheblich erweiterten Repertoire finden sich jede Menge Shanties und andere Songs, die man gut mitsingen kann - auch dank der von ihm erstellten und in ausreichender Zahl zur Verfügung gestellten Textbücher.